Erze Damath

Am letzten Abend war auf dem Floß wieder ein wenig von der anfänglichen Kameradschaft zu spüren. Der Lokutor Vitz machte einige rhetorische Übungen, und Cugel führte einen Springtanz auf, der für die Hummerfischer von Kauchique typisch war; in jener Region hatte er seine Jugend verbracht. Voynod demonstrierte seine Kunst, indem er einige Metamorphosen bewirkte, und anschließend holte er einen kleinen Silberring hervor und winkte Haxt zu. »Berühr ihn mit der Zunge, preß ihn dir an die Stirn und blick dann hindurch.«

»Ich sehe eine Prozession!« entfuhr es Haxt. »Hunderte und Tausende von wandernden Männern und Frauen. An der Spitze der Kolonne gehen mein Vater und meine Mutter, und dann folgen meine Großeltern. Doch wer sind die anderen?«

»Deine Ahnen«, sagte Voynod. »Jeder einzelne auf die für ihn typische Art und Weise gekleidet. Und den Abschluß der Prozession bildet der erste Homunculus, von dem wir alle abstammen.« Er nahm den Ring zurück, griff in seine Tasche und zeigte einen trüb schimmernden blaugrünen Kristall.

»Seht genau zu – ich werfe diesen Kristall jetzt in den Scamanderfluß!« Er holt weit aus, und das glitzernde Juwel sauste durch die Luft und verschwand im dunklen Wasser. »Jetzt strecke ich nur die Hand aus, und der Kristall ist wieder da!« Und tatsächlich: Während die Blicke der anderen Pilger auf die Hand des Zauberers gerichtet waren, blitzte es über dem Feuer kurz auf, und die Finger Voynods schlossen sich um das Kleinod. »Mit diesem Kristall braucht man keine Armut mehr zu fürchten. Sicher, er hat keinen großen Wert, aber man kann ihn immer wieder verkaufen…

Was soll ich euch sonst noch zeigen? Vielleicht dieses kleine Amulett hier. Es hat ganz offensichtlich eine erotische Form, und es erweckt entsprechende Empfindungen in der Person, auf die die Kraft dieses Gegenstandes gerichtet wird. Man muß sehr vorsichtig damit umgehen, und man tut gut daran, auch noch ein anderes Objekt bei sich zu führen, das die starke Wirkung des Amuletts zu verringern vermag: hier, diese Brosche, die einem Widderkopf nachempfunden ist. Kaiser Dalmasmius der Verführer ließ sie anfertigen, so daß er sicher sein konnte, nicht die Gefühle seiner zehntausend Konkubinen zu verletzen… Und sonst noch? O ja! Meine Rute, die von einem Augenblick zum anderen irgendwelche Dinge an anderen festkleben lassen kann. Ich trage sie in einer Scheide bei mir, um zu vermeiden, daß ich – ohne es zu wollen – einen Hosenboden mit dem verbinde, was er bedeckt. Nun, es gibt viele Verwendungsmöglichkeiten für einen solchen Gegenstand. Und weiter? Wollen wir mal sehen… Ah, natürlich! Ein Horn von einzigartiger Qualität. Schiebt man es in den Mund einer Leiche, so gibt es dem Toten die Gelegenheit, noch zwanzig letzte Worte auszusprechen. Hält man es hingegen ans Ohr eines Leichnams, so erlaubt es die Übermittlung von Informationen ins leblose Hirn… Und was haben wir hier? O ja, ein kleiner Apparat, der mir bereits viel Freude gemacht hat!« Und Voynod zeigte seinen Zuschauern eine Puppe, die erst eine leidenschaftliche Ansprache hielt, dann ein ziemlich anstößiges Lied sang und schließlich mit dem ganz vorn sitzenden und aufmerksam zusehenden Cugel einige witzige Bemerkungen austauschte.

Nach einer Weile verlor Voynod das Interesse an seinen thaumaturgischen Demonstrationen, und nacheinander zogen sich die Pilger zur Nachtruhe zurück.

Cugel lag wach, hatte die Hände hinterm Kopf zusammengefaltet und blickte zu den Sternen hoch. Er dachte über den erstaunlich umfangreichen Besitz Voynods an magischen Instrumenten und Werkzeugen nach.

Als er sicher war, daß alle schliefen, stand er auf und musterte den schnarchenden Voynod. Sein Beutel war fest zugeschnürt und lag unter dem einen Arm des Zauberers, ganz so, wie es Cugel erwartet hatte. Er begab sich in die kleine Kombüse, in der sie ihre Vorräte verstaut hatten, und dort griff er nach einer Portion Schmalz und mischte sie mit Mehl, wodurch eine salbenartige weiße Masse entstand. Dann nahm er dickes steifes Papier zur Hand, faltete daraus eine Schachtel und gab die Salbe hinein. Anschließend kehrte er zu seiner Matratze zurück.

Am folgenden Morgen sorgte er dafür, daß ihn Voynod dabei beobachtete, wie er sein Schwert mit der weißen Masse einrieb.

Der Zauberer war sofort entsetzt. »Das kann doch nicht sein! Ich bin völlig außer mir! Ach, armer Lodermulch!«

Cugel hob überrascht den Kopf. »Was sagst du denn da?« brummte er. »Ich schütze die Klinge doch nur vor Rostfraß.«

Voynod machte ein finsteres Gesicht und schüttelte heftig den Kopf. »Jetzt weiß ich Bescheid! Du hast Lodermulch aus Habgier umgebracht! Und mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich in Erze Damath an die Diebesfänger zu wenden und dich zu denunzieren!«

Cugel winkte hastig. »Übereil nichts! Du irrst dich. Ich bin völlig unschuldig!«

Voynod – ein großer und ernst wirkender Mann mit purpurnen Ringen unter den Augen, einem langen Kinn und einer hohen und schmalen Stirn – hob die Hand. »Ich habe noch nie etwas von Leuten gehalten, die andere Menschen aus niederen Beweggründen töten. In diesem Fall muß das Prinzip der Gleichheit zur Geltung kommen, und die Untat erfordert eine harte Strafe. Auf keinen Fall darf der Schurke die Möglichkeit erhalten, von seinem Verbrechen zu profitieren!«

»Meinst du damit die Salbe?« fragte Cugel wie beiläufig.

»In der Tat«, bestätigte Voynod. »So verlangt es die Gerechtigkeit.«

»Du bist ein strenger Mann«, stöhnte Cugel kummervoll. »Und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich deinem Urteil zu beugen.«

Voynod streckte die Hand aus. »Dann gib mir den Balsam. Und da du deine Tat offenbar bereust, werde ich kein Wort mehr darüber verlieren.«

Nachdenklich schürzte Cugel die Lippen. »Nun gut. Ich habe mein Schwert bereits gesalbt. Deshalb bin ich bereit, dir den Rest des Balsams zu überlassen, wenn du mir dafür das erotische Amulett samt der Widderkopfbrosche und auch noch einige andere Talismane gibst.«

»Habe ich richtig gehört?« platzte es aus Voynod heraus. »Dein Hochmut ist unübertroffen! Jene Objekte stellen einzigartige Kostbarkeiten dar!«

Cugel zuckte mit den Schultern. »Und diese Salbe hier ist alles andere als übliche Handelsware.«

Nach einer kurzen und recht hitzigen Diskussion tauschte Cugel die Salbe gegen ein Rohr ein, das ein blaues Konzentrat bis in eine Entfernung von fünfzig Schritten schleudern konnte. Außerdem erhielt er auch noch eine Schriftrolle, in der achtzehn Phasen des Laganetischen Zyklus beschrieben wurden. Und mit diesen Dingen mußte er sich zufriedengeben.

Es dauerte nicht lange, und am westlichen Ufer des Stroms waren die ersten Ruinen von Erze Damath zu sehen: uralte Prachthäuser, deren Mauern vor Äonen eingestürzt und von Unkraut überwuchert waren.

Die Pilger lenkten das Floß mit Stangen in die entsprechende Richtung. In der Ferne bemerkten sie die Spitze des Schwarzen Obelisken, und daraufhin jubelten die frommen Männer. Schräg trieb das Floß über den Scamanderfluß, und kurz daraufmachte man es an den Überresten einer steinernen Mole fest.

Die Pilger gingen an Land und versammelten sich vor Garstang, der mit lauter Stimme sagte: »Es bereitet mir eine große Genugtuung, nun nicht mehr die Verantwortung für euch alle tragen zu müssen. Denkt nur! Die heilige Stadt, in der Gilfig das Gneustische Dogma begründete! In der er Kazue geißelte und Enxis die Hexe brandmarkte! Es ist durchaus möglich, daß seine heiligen Füße diesen Boden hier berührt haben.« Mit einer pathetischen Geste deutete Garstang auf die Erde, und die Pilger starrten auf den Staub und bewegten sich unruhig. »Wie dem auch sei: Wir haben unser Ziel erreicht, und jeder von uns sollte Erleichterung empfinden. Die Reise war anstrengend und nicht ungefährlich. Neunundfünfzig Pilger verließen das Pholgustal. Bamish und Randol fielen in der Sagmasenke Schrecknern zum Opfer. An der Brücke über den Asc stieß Cugel zu uns. Doch auf dem Scamander verloren wir Lodermulch. Jetzt sind wir siebenundfünfzig Gefährten, eine Gruppe aus Freunden und Kameraden, und der Gedanke, daß wir nun auseinandergehen, betrübt mich sehr. Aber ich bin sicher, daß wir uns niemals vergessen werden!

In zwei Tagen beginnen die Weihe-Rituale. Es bleibt uns noch Zeit genug. Diejenigen von euch, die nicht ihr ganzes Geld beim Spiel verloren haben«, – bei diesen Worten warf Garstang Cugel einen scharfen Blick zu –, »können in komfortabel eingerichteten Herbergen wohnen. Die anderen müssen irgendwie zurechtkommen. Unsere Reise ist nun beendet. Von jetzt an besteht unsere Gruppe nicht mehr, und jeder geht seinen eigenen Weg. In zwei Tagen jedoch treffen wir uns alle am Schwarzen Obelisken wieder. Bis dahin – lebt wohl!«

Daraufhin gingen die Pilger auseinander. Einige wanderten am Ufer des Scamander entlang und hielten auf eine nahe Schenke zu, und andere wandten sich vom Fluß ab und schritten in die eigentliche Stadt.

Cugel trat auf Voynod zu. »Du weißt sicher, daß ich mich in diesem Land nicht auskenne. Kannst du mir eine Herberge empfehlen, die alle Bequemlichkeiten zu einem möglichst niedrigen Preis anzubieten hat?«

»Ja, das kann ich«, erwiderte Voynod. »Tatsächlich hatte ich gerade vor, eine solche Herberge aufzusuchen: das Gasthaus des Alten Dastrischen Reiches. Es wurde dort errichtet, wo sich einst ein prächtiger Palast befand. Wenn alles beim alten geblieben ist, gibt es dort für wenig Gold allen nur erdenklichen Luxus und die köstlichsten Speisen.«

Diese Aussicht entsprach genau den Vorstellungen Cugels. Zusammen mit Voynod ging er los, durch die Straßen der alten Stadt Erze Damath, vorbei an dicht nebeneinander stehenden Stuckhütten. Kurz darauf überquerten sie einen großen freien Platz, auf dem die Wege und Straßen ein sonderbares Muster bildeten, und im Anschluß daran passierten sie größere Villen, von denen einige nach wie vor bewohnt waren. Vor jenen Gebäuden gab es kein wucherndes Unkraut, sondern gepflegte Blumengärten. Das Volk von Erze Damath schien recht freundlich zu sein, doch die Menschen waren ein wenig dunkelhäutiger als die von Almery. Die Männer schienen schwarze Kleidung zu bevorzugen: enge Hosen und Westen mit schwarzen Troddeln. Die Frauen hingegen trugen bunte Kleidung in gelben, roten und orange-und magentafarbenen Tönen. An ihren Schuhen glänzten und funkelten limonengelbe und schwarze Metallschuppen. Blau und Grün waren selten und galten als Farben des Unheils. Bei Purpur handelte es sich um ein Symbol des Todes.

Die Frauen schmückten sich mit langen Federn, die sie sich ins Haar steckten, und die Männer offenbarten elegant aussehende schwarze Scheiben, die in der Mitte ein großes Loch aufwiesen, durch das die Schädeldecke ragte. Die Verwendung eines harzig riechenden Öls schien allgemein sehr beliebt zu sein, und alle Leute, denen Cugel begegnete, dufteten nach Aloe, Myrrhe oder Thymian. Die Bewohner Erze Damaths waren ganz offensichtlich nicht weniger kultiviert als die von Kauchique, und sie erweckten einen lebhafteren und umgänglicheren Eindruck als die apathischen Männer und Frauen von Azenomei.

Kurz darauf erreichten sie das Gasthaus des Alten Dastrischen Reiches, das nicht sehr weit vom Schwarzen Obelisken entfernt war. Enttäuscht mußten Cugel und Voynod feststellen, daß es in der Herberge keinen Platz mehr gab. Der Hausdiener weigerte sich, ihnen Eintritt zu gewähren. »Es halten sich viele fromme Leute in der Stadt auf, die alle an den Weihe-Riten teilnehmen wollen«, erklärte er. »Ihr könnt von Glück sagen, wenn ihr überhaupt noch irgendeine Unterkunft findet.«

Und damit hatte er recht: Cugel und Voynod wanderten von Schenke zu Schenke, doch überall wurden sie abgewiesen. Am westlichen Stadtrand schließlich, unweit der Silbernen Wüste, hatten sie Glück und betraten eine Taverne, die nicht gerade zur Luxusklasse zu gehören schien: das Gasthaus zur Grünen Lampe.

»Noch vor zehn Minuten hätte ich euch nicht unterbringen können«, sagte der Wirt. »Doch eben kamen die Diebesfänger und brachten zwei Personen fort, die hier wohnten. Sie bezeichneten sie als Straßenräuber und gemeine Schurken.«

»Ich hoffe doch, daß diese Beschreibungen nicht auf alle deine Kunden zutreffen?« fragte Voynod.

»Wer weiß?« erwiderte der Wirt. »Meine Arbeit besteht darin, meine Gäste unterzubringen und ihren Hunger und Durst zu stillen. Damit hat es sich. Selbst Raufbolde und Halunken müssen essen, trinken und schlafen, ebenso wie ehrbare Leute und Zeloten. Ich habe sie alle bewirtet, und außerdem: Was weiß ich denn von euch beiden?«

Die Sonne ging unter, und ohne weitere Umstände quartierten sich Cugel und Voynod im Gasthaus zur Grünen Lampe ein. Nachdem sie sich ein wenig erfrischt hatten, begaben sie sich in den Gemeinschaftsraum, um dort das Abendessen einzunehmen. Überraschenderweise kam das Zimmer einem großen Saal gleich. Die Deckenbalken waren so alt, daß sie eine schwarze Tönung angenommen hatten, und der Boden bestand aus dunkelbraunen Fliesen. Hier und dort erhoben sich Säulen und kleinere Holzpfähle, und auf jedem stand eine Lampe. Die Menge der Gäste war so gemischt, wie der Wirt bereits angedeutet hatte. Cugel sah ein Dutzend verschiedene Trachten und Hautfarben. Auf der einen Seite saßen Männer aus der Wüste, so dünn wie Schlangen, gekleidet in lederne Kutten. Etwas weiter entfernt erblickte Cugel vier Leute mit gleichen Gesichtern und roten, seidig wirkenden Haarschöpfen; sie gaben die ganze Zeit über nicht einen einzigen Laut von sich. An einem Tresen in der Nähe der Rückwand hatten sich einige Banditen eingefunden. Sie trugen braune Hosen, schwarze Umhänge und lederne Mützen, und jeder von ihnen besaß einen rundlichen Kristall, der an einer goldenen Ohrkette hing.

Das Essen war zwar recht schmackhaft, doch die Bedienung ließ ein wenig zu wünschen übrig. Als sie die Mahlzeit beendet hatten, tranken sie Wein und fragten sich, was sie mit dem angebrochenen Abend anfangen sollten. Voynod meinte, er wolle sich noch ein wenig in den Schreien religiöser Hingabe üben, die während der Weihe-Riten ertönen sollten. Daraufhin bat ihn Cugel darum, ihm den Talisman zu leihen, mit dem sich erotische Stimulationen bewirken ließen. »Die Frauen von Erze Damath sind recht hübsch, und mit Hilfe des magischen Amuletts kann ich mir über das Ausmaß ihres Geschicks klarwerden.«

»Das kommt nicht in Frage«, lehnte Voynod ab und preßte den Beutel an sich. »Solche Dinge sind mir zuwider.«

Cugel verzog ärgerlich das Gesicht. Voynod war ein hohlwangiger, dürrer und finster wirkender Mann, und aufgrund dieses nicht sonderlich attraktiven Erscheinungsbildes schien er es vorzuziehen, sich mit den philosophischen und thaumaturgischen Wissenschaften zu befassen.

Voynod setzte seinen Becher an die Lippen und trank ihn in kleinen und geziert wirkenden Schlucken aus. Dieses Verhalten machte Cugel noch nervöser, und er stand auf. »Ich ziehe mich jetzt in mein Zimmer zurück.«

Als er sich umwandte, wankte einer der Banditen durch den Raum und stieß ihn an. Voynod sah sich zu einer scharfen Bemerkung veranlaßt, die der Mann nicht einfach überhörte. »Wie kannst du es wagen, mir gegenüber solche Worte zu verwenden? Zieh deine Klinge und stell dich mir zum Kampf, wenn du vermeiden willst, daß ich dir die Nase aus dem Gesicht schneide!« Und der Bandit zückte den Degen.

»Wie du willst«, gab Voynod zurück. »Gedulde dich ein wenig, bis ich mein Schwert vorbereitet habe!« Er zwinkerte Cugel zu, als er etwas von der Salbe auf den Stahl strich. »Und nun – stirb, du Halunke!« Mit einem kühnen Satz sprang er vor. Der Bandit hatte Voynod beobachtet und kam zu dem Schluß, daß Magie zum Einsatz gebracht wurde. Vor Schrecken war er wie erstarrt. Voynod trieb ihm die Klinge in den Leib und wischte das Blut anschließend an der Mütze des Toten ab.

Die anderen an der Theke sitzenden Banditen standen auf, verharrten jedoch, als sich Voynod ihnen zuwandte, ohne irgendwelche Furcht zu zeigen. »Gebt acht, ihr Schufte! Denkt daran, welches Schicksal euer Freund erlitt! Er starb durch die Kraft des magischen Schwertes, das aus unzerstörbarem Metall besteht und Granit und Stahl wie Butter schneidet! Seht genau zu!« Und Voynod holte zum Schlag auf eine der Säulen aus. Die Klinge traf einen dicken Eisenring und zerbrach klirrend. Völlig verwirrt starrte der Zauberer auf die Reste seines Schwertes, und die Banditen grölten und traten auf ihn zu.

»Was ist nun mit deiner Magie? Unsere Klingen bestehen aus gewöhnlichem Stahl, aber sie sind sehr scharf!« Und innerhalb weniger Augenblicke wurde Voynod in Stücke geschnitten.

Dann wandten sich die Banditen Cugel zu. »Und du? Möchtest du das Schicksal deines Begleiters teilen?«

»Mitnichten!« erwiderte Cugel. »Jener Mann war nur ein Diener, der meine Tasche trug. Ich bin Magier. Seht nur dieses Rohr hier! Dem ersten von euch, der sich mir zu nähern wagt, schleudere ich blaues Konzentrat entgegen!«

Die Banditen zuckten mit den Schultern und gingen fort. Cugel nahm den Beutel Voynods an sich und winkte dann den Wirt herbei. »Laß bitte die beiden Leichen fortschaffen. Und dann bring mir einen Becher Glühwein.«

»Was ist mit der Zeche deines Gefährten?« fragte der Wirt argwöhnisch.

»Mach dir keine Sorgen: Ich komme voll und ganz dafür auf.«

Die Toten wurden ins Lager hinter dem Gasthaus gebracht, und Cugel trank einen letzten Becher Glühwein und zog sich dann in sein Zimmer zurück. Er verriegelte die Tür, öffnete die Tasche des Zauberers und breitete ihren Inhalt auf dem Tisch aus. Das Geld verstaute er in der Börse. Die Talismane, Amulette und thaumaturgischen Instrumente packte er in seine eigene Tasche. Die Schachtel mit der Salbe schob er beiseite. Er war recht zufrieden mit der Arbeit dieses Tages, streckte sich auf dem Bett aus und schlief kurze Zeit später ein.

Am folgenden Tag durchstreifte Cugel die Stadt und erkletterte den höchsten von insgesamt acht Hügeln. Der Anblick, der sich ihm von der Kuppe aus darbot, war gleichzeitig öde und prächtig. Rechts und links erstreckte sich die weite Wasserfläche des Scamander-Stroms. Die Straßen sahen aus wie dünne Linien, die an quadratischen Blöcken aus Ruinen vorbeiführten, an offenen Plätzen, den Stuckhütten der Armen und den Palästen der Reichen. Erze Damath war die größte Stadt, die Cugel jemals gesehen hatte, weitaus größer noch als Alrriery oder Ascolais, obwohl es sich bei dem überwiegenden Teil nur noch um Schutthaufen handelte.

Nach einer Weile kehrte er ins Zentrum der Stadt zurück und suchte den Stand des Geografen auf. Er bezahlte eine Gebühr und fragte, welches der kürzeste und sicherste Weg sei, der nach Almery führe.

Der Gelehrte gab keine übereilte Antwort, dachte gründlich nach und holte verschiedene Karten und Übersichten hervor. Er studierte sie eingehend und wandte sich dann an Cugel. »Diesen Rat gebe ich dir: Reise am Ufer des Scamanderstroms entlang, bis du auf den Ascfluß stößt. Folge seinem Verlauf, bis du eine Brücke mit sechs Pfeilern findest. Von dort aus zieh nach Norden weiter, durch die Berge von Magnatz, an die sich ein Wald anschließt, der Ermgroß genannt wird. Setze deinen Weg durch jenen Wald nach Westen fort, bis du an die Küste des Nordmeers gelangst. Dort mußt du dir ein Boot bauen und dich den Kräften des Windes und der Strömung anvertrauen. Wenn du durch Zufall das Land des Geborstenen Walles erreichst, hält die Weiterreise nach Süden, nach Almery, kaum mehr Probleme bereit.«

Cugel seufzte. »Du hast gerade ziemlich genau den Weg beschrieben, den ich gekommen bin. Gibt es keine andere Route?«

»Doch. Ein mutiger Mann könnte das Wagnis eingehen, durch die Silberne Wüste bis zum Songanmeer zu ziehen. Jenseits davon erstrecken sich die öden Regionen eines Landes, das ans östliche Almery grenzt.«

»Nun, das klingt schon besser. Wie soll ich die Silberne Wüste durchqueren? Gibt es Karawanen?«

»Wozu denn? Es gibt niemanden, der die Waren kaufen könnte, die auf solche Weise transportiert werden. Abgesehen von Räubern und Banditen – doch die ziehen es vor, sich einfach zu nehmen, was ihnen gefällt. Es wäre eine Gruppe von mindestens vierzig Männern erforderlich, um die Wegelagerer von Angriffen abzuhalten.«

Cugel verließ den Stand. In einer nahen Taverne trank er einen Kelch Wein und überlegte, wie er eine aus vierzig Männern bestehende Streitmacht zusammenstellen sollte. Nun, die Pilger… Es waren insgesamt sechsundfünfzig, nein, fünfundfünfzig nach dem Tod Voynods. Ja, die Pilger mochten ihm durchaus von Nutzen sein…

Cugel trank noch einen zweiten Becher Wein und dachte konzentriert nach.

Dann bezahlte er seine Zeche und lenkte seine Schritte in Richtung des Schwarzen Obelisken. ›Obelisk‹ war eigentlich eine irreführende Bezeichnung; in Wirklichkeit handelte es sich um einen mehr als dreißig Meter hohen pechschwarzen Spitzfelsen. Dort, wo er aus dem Boden ragte, hatte man fünf Statuen errichtet. Sie blickten in unterschiedliche Richtungen, und jede stellte die Verkörperung des Obersten Adepten der betreffenden Religion dar. Gilfig sah nach Süden, und seine vier Hände hielten Symbole. Die Füße ruhten auf den Hälsen ekstatischer Bittsteller, und die verlängerten Zehen deuteten nach oben und brachten Eleganz und Empfindsamkeit zum Ausdruck.

Cugel bat einen in der Nähe stehenden Bediensteten um Auskunft. »Wer ist in Hinsicht auf den Schwarzen Obelisken der Erste Hierarch, und wo kann ich ihn finden?«

»Du meinst sicher den Vorboten Hulm«, erwiderte der Bedienstete und deutete auf ein funkelndes Gebäude. »Seine geweihte Stätte befindet sich in jenem mit Edelsteinen geschmückten Haus.«

Cugel näherte sich dem entsprechenden Gebäude, und nach einigen wortreichen Erklärungen geleitete man ihn zum Vorboten Hulm: einem Mann in mittleren Jahren, mit einem runden Gesicht und von untersetzter Statur. Cugel zeigte kurz auf den einfachen Hierophanten, der sich zunächst hartnäckig geweigert hatte, ihm Einlaß zu gewähren. »Geh! Meine Botschaft ist allein für den Vorboten bestimmt.«

Hulm winkte, und der Hierophant verließ das Zimmer. Cugel trat näher heran. »Kann ich hier sprechen, ohne befürchten zu müssen, daß meine Worte an fremde Ohren dringen?«

»Sei unbesorgt.«

»Zunächst einmal«, sagte Cugel, »sollst du wissen, daß ich ein mächtiger Zauberer bin. Sieh nur: ein Rohr, mit dem ich blaues Konzentrat fortzuschleudern vermag! Und hier: eine lange Liste, in der achtzehn Phasen des Laganetischen Zyklus beschrieben werden! Und dann dieses Instrument: Wenn man das Horn in den Mund eines Toten schiebt, kann er noch zwanzig letzte Worte formulieren; hält man es hingegen an das Ohr eines Leichnams, so ist es möglich, dem leblosen Hirn Informationen zu übermitteln! Und ich besitze noch viele andere wundersame Dinge!«

»Wirklich interessant«, murmelte der Vorbote.

»Und ich möchte dir noch etwas anderes mitteilen: Vor einiger Zeit diente ich in einem fernen Land einem Kräutermischer des Tempels der Teleologen. Von ihm erfuhr ich folgendes: Jede einzelne der heiligen Statuen war so beschaffen, daß sich die Priester im Notfall auf eine ganz bestimmte Weise verhalten und behaupten konnten, ihr Gebaren entspreche dem der Gottheit.«

»Und warum sollte das nicht stimmen?« erwiderte der Vorbote freundlich. »Schließlich kontrolliert die Gottheit alle Aspekte des Lebens und somit auch die Priester.«

Dieser Vorstellung pflichtete Cugel bei. »Ich nehme deshalb an, daß die Statuen am Schwarzen Obelisken einen ähnlichen Zweck erfüllen, nicht wahr?«

Der Vorbote lächelte. »Und auf welche der fünf beziehst du dich dabei im besonderen?«

»Auf die Darstellung Gilfigs.«

Der Blick des Vorboten reichte in die Ferne, und er dachte eine Zeitlang nach.

Cugel deutete auf die verschiedenen Talismane und magischen Instrumente. »Als Gegenleistung für einen Dienst stelle ich deinem Amt einige dieser sehr kostbaren Objekte zur Verfügung.«

»Was für einen Dienst meinst du?«

Cugel erklärte ausführlich, was er im Sinn hatte, und der Vorbote schürzte die Lippen und nickte. »Wärst du so freundlich, mir noch einmal deine thaumaturgischen

Gegenstände zu zeigen?«

Cugel erfüllte ihm diesen Wunsch.

»Und das sind alle Dinge?«

Widerstrebend zeigte Cugel auch den erotischen Stimulator und erläuterte die Funktion der Widderkopfbrosche. Der Vorbote nickte erneut und schien diesmal tatsächlich fasziniert zu sein. »Ich glaube, wir könnten eine Übereinkunft treffen. Und ich bin sicher, der allmächtige Gilfig hat nichts dagegen.«

»Dann bist du einverstanden?«

»Das bin ich, ja.«

Am folgenden Morgen versammelten sich die fünfundfünfzig Pilger am Schwarzen Obelisken. Voller Demut huldigten sie Gilfig, und einige von ihnen stimmten die Zeremonienschreie an. Plötzlich glühten die Augen der Statue auf, und ihr Mund öffnete sich. »Pilger!« ertönte eine blechern klingende Stimme. »Unterwerft euch meinem Willen! Reist durch die Silberne Wüste an die Küste des Songanmeeres! Dort findet ihr einen Tempel, in dem ihr mich ehren sollt! Brecht auf! Durch die Silberne Wüste, in aller Eile!«

Daraufhin wurde es wieder still. Garstang war blaß geworden, und nach einer Weile antwortete er: »Wir haben dich gehört, o Gilfig! Und wir gehorchen dir!«

In diesem Augenblick sprang Cugel vor. »Und auch ich bin Zeuge dieses Wunders geworden! Ich schließe mich euch an! Kommt, machen wir uns gleich auf den Weg!«

»Nicht so hastig«, sagte Garstang. »Wir können doch nicht einfach umherspringen und durch die Wüste laufen, als seien Derwische hinter uns her. Wir brauchen sowohl Vorräte als auch Tiere, die sie tragen. Dafür ist Geld erforderlich. Wer ist bereit, sich von seinen Münzen zu trennen?«

»Ich biete zweihundert Tiercen!« – »Und ich sechzig, mein ganzes Vermögen!« – »Ich habe beim Spiel neunzig Tiercen an Cugel verloren und besitze nur noch vierzig, die ich hiermit zur Verfügung stelle.« Auch andere Pilger meldeten sich zu Wort, und selbst Cugel zahlte fünfundsechzig Tiercen in die Gemeinschaftskasse ein.

»Gut«, sagte Garstang. »Morgen kaufen wir die nötigen Sachen, und wenn alles gutgeht, brechen wir übermorgen auf und verlassen Erze Damath durch das Alte Westtor!«